Sonntag, 30. Juni 2013

Julius Kühn (1825 – 1910) und die Entwicklung der Agrarwissenschaften in Halle


(Rede anlässlich des Besuchs der Thaer-Gesellschaft am 15.6.2013 in Halle)

Weizenerträge von knapp 1 t/ ha, eine Milchleistung von kaum mehr als 1000 l/ Jahr eine Lebenserwartung von statistisch nicht einmal 40 Jahren und mehr als 80 % der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig.  Wenn wir diese Zahlen hören, schaudert es uns, wohl wissend, dass in einigen Ländern dieser Welt solche Zahlen heute traurige Realität sind. Dies war aber die Realität des beginnenden 19. Jahrhunderts in dem, was wir heute Deutschland nennen.  Aber die Fakten waren noch bedrückender. Ältere im Dorf oder aus der Familie werden Julius Kühn noch von der großen Hungersnot 1771 bis 1772 in Sachsen und der Lausitz erzählt haben, der vermutlich viele tausend Menschen zum Opfer gefallen sind. 1816 ging als „Jahr ohne Sommer“ in die Geschichte ein. Die Getreideernte fiel niedrig aus und die Preise für Weizen und  Roggen explodierten. Der Grund lag auf der anderen Seite der Welt, denn ausgelöst durch den Ausbruch des Vulkans Tambora im April 1815 in der Nähe der Insel Java im heutigen Indonesien war es weltweit zu Veränderungen des Klimas gekommen.  Auch die Kartoffelfäule 1845 bis 1849, bei der vermutlich mehr als 1 Mio. Menschen verhungert sind und die gleiche Anzahl sich auf den Weg nach Amerika machte, hat die Menschen beeinflusst. All dies schien die These des Engländers Robert Thomas Malthus zu bestätigen, der 1798 seinen berühmter „Essay on the Principle of Population“ veröffentlichte und hierbei argumentierte, dass bei dem aktuellen Wachstum der Bevölkerung und den mageren Steigerungsraten der Landwirtschaftlichen Produktion die Katastrophe unausweichlich sei. Übrigens ein Sachverhalt, der einige Jahre zuvor schon von einem chinesischen Autor beschrieben worden war. 
Das war also die Zeit Julius Kühns.
Der junge Julius Kühn

Überliefert ist der frühe Wunsch Julius Kühns Landwirt zu werden.  Nach der Ausbildung auf dem Gut Wachau wurde Julius Kühn Verwalter auf verschiedenen Betrieben. Ein wichtiger Schritt, um unterschiedliche Standortbedingungen und Wirtschaftsweisen kennen zu lernen.  Eine Zeit von acht Jahren, schon verbunden mit ersten Forschungsarbeiten, verbrachte Julius Kühn dann auf dem schlesischen Gut Groß-Krausche im heutigen Bolesławiec (ehemals Bunzlau) in Niederschlesien. Dass er in dieser Phase bereits mit Forschungsarbeiten begann, ist vielfach dokumentiert. Es reifte in ihm in dieser Zeit auch der Wunsch, seine Ausbildung im Rahmen eines Studiums weiter zu vertiefen.  Wenn ein 30-Jähriger heute in die Studienberatung kommt, würde man sehr ernst nach der Motivation fragen und klar vor Augen führen, dass er sich der Beginn eines Studiums in diesem Alter sehr gut überlegt werden sollte. Die Anforderungsprofile der heutigen Zeit kennen sie alle. Ein Studienbeginn mit fast 30 Jahren ist da nicht vorgesehen. Aber auch an dieser Stelle dürfen wir Julius Kühn, sein Leben, seine Zeit nicht aus unserer Perspektive Betrachten. Viele große Wissenschaftler des 19. Jh., besonders in der sich langsam entwickelnden neuen Wissenschaft Biologie hatten nach unserem heutigen Verständnis keine formale Ausbildung.  Charles Darwin (Jahrgang 1809) hatte ein Medizinstudium in Edinburgh abgebrochen und anschließend Theologie in Cambridge studiert und dies auch 1831 mit dem Bakkalaureus in Theologie abgeschlossen. Die Teilnahme an der berühmten Fahrt mit der Beagle ist ja im Wesentlichen durch die persönliche Fürsprache seines Lehrers John Stevens Henslow zu verdanken. Gregor Mendel (Jahrgang 1822), der sich schon seit frühester Jugend für Natur interessierte, war auf Grund der finanziellen Situation zu einem theologischen Studium gezwungen, hat sich später auch naturwissenschaftlich immer wieder fortgebildet. Scheiterte aber mit seiner Lehramtsprüfung.  Es gibt aber auch im 19. Jahrhundert in den Agrarwissenschaften schon Gegenbeispiele: Herrmann Hellriegel (Jahrgang 1831), Sohn eines Landwirts, studierte an der Land- und Forstwirtschaftlichen Akademie in Tharandt, bevor er seine wissenschaftliche Laufbahn begann.
Julius Kühn blieb konsequent und immatrikulierte sich mit fast 30 Jahren in Bonn Poppelsdorf für das Studium der Landwirtschaft. Dass er diese Ausbildung bereits nach einem Jahr beendete, erscheint uns heute in den Zeiten der strukturierten Studiengänge verwunderlich, unterstreicht aber die außerordentliche Begabung Julius Kühns und die Flexibilität der damaligen Prüfungsordnungen.  Anschließend erfolgte sehr zügig seine Promotion in Leipzig (1857) und Habilitation an der Akademie in Proskau – institutionell neben Möglin ein Vorläufer der landwirtschaftlichen Hochschule Berlins - in Schlesien mit Aufnahme der Lehrtätigkeit im Wintersemester 1856/57 zu dem – dies sei mir pro domo gestattet – mit dem wunderbaren Thema Ackerbausysteme und Fruchtfolgen.  Ab 1857 konzentrierte sich Kühn dann allerdings wieder auf die landwirtschaftliche Praxis und übernahm die Bewirtschaftung der Betriebe des Grafen Egloffstein in Niederschlesien (Schwusen als Wohnsitz) für insgesamt fünf Jahre. Da war also ein akademisch gebildeter Gutsverwalter in der Mitte des 19. Jahrhunderts und bis zu diesem Zeitpunkt war die weitere Entwicklung noch nicht absehbar.
Wie nun kam Julius Kühn nach Halle an die Universität, was machte er mit dieser Universität und was – sofern sich dies heute noch rekonstruieren lässt – machte das universitäre Leben mit ihm?
Aber blicken wir zuerst in die Geschichte der Agrarwissenschaften, damit nicht der Eindruck entsteht, landwirtschaftliche Ausbildung an Universitäten wäre erst im 19. Jahrhundert entstanden. Im Gegenteil: Landwirtschaftliche Ausbildung in Halle hatte eine Tradition bis zu den Anfänge der Hallenser Universität. Christian Thomasius (1655 – 1728), Begründer der juristischen Fakultät in Halle, behandelte 1678 in seiner Inauguraldisputation in Leipzig das Thema “Von dem Recht, was bei Früchten oder dem Getreide, so in Halmen und Ähren schießet, zu beachten“. Auch der Leibnitz-Schüler und Mathematiker Christian Wolf (1679 -1754) befasste sich in seinen Vorlesungen mit landwirtschaftlichen Fragestellungen. Der Titel einer seiner Schriften mag als Beispiel dienen: „Entdeckung der wahren Ursache von der Wunderbahren Vermehrung des Getreydes“ (1725).  Und seit 1727 wurden durch den Ordinarius für Ökonomie Simon Peter Gasser (1676 – 1745) Fragen der Verwaltung landwirtschaftlicher Betriebe im Studium aufgegriffen.  Das Wissen um die naturwissenschaftlichen Grundlagen war allerdings noch gering. Lehrbücher noch nicht vorhanden.
Es beginnt, wie so vieles in der deutschen Landwirtschaft, mit Albrecht Thaer, der in seinem dreibändigen Werk“ Einleitung zur Kenntnis der englischen Landwirtschaft...“ erschienen 1788 bis 1804, die Idee entwickelte eine Akademie für Landwirtschaft zu etablieren. Diese sollte, so Thaer, zwei Zielen dienen: der Ausbildung von praktischen Betriebsleitern einerseits, aber auch der wissenschaftlichen Forschung und Lehre.
Verwirklicht wurde dieses Prinzip von Thaer selbst nur unzureichend. Thaer verfolgte seinen Plan aber weiter und pachtet, nachdem ihm selbst seine Möglichkeiten in Celle zu eingeschränkt waren, das Klostergut Weende vor den Toren Göttingens. Die Verbindung von Universität und landwirtschaftlicher Ausbildung scheiterte jedoch an der Besetzung Hannovers durch die Franzosen 1803. Wir befinden uns 60 Jahre vor der Gründung in Halle. Freiherr von Hardenberg konnte Thaer dann nach Preußen bewegen und so wurde 1806 eine Lehranstalt auf dem Rittergut Möglin eröffnet. Diese diente als Demonstrationsobjekt, es war aber eine rein praktische Ausbildung. Thaer konnte hier somit seine eigenen Ideale nur unzureichend verwirklichen. Jedoch war der Zuspruch groß: 1809 weist die Statistik bereits 109 Studierende auf. Dieses Beispiel führte in den verschiedenen Regionen Deutschlands zu einer ganzen Reihe von ähnlichen Gründungen. In Preußen fanden in den nächsten Jahren kaum weitere Aktivitäten statt. Vermutlich waren die Wirren der Nachkriegszeit, aber auch die sich sehr schnell ändernden Besitz- und Vermögensverhältnisse die Ursache. 1821 sollte in dem kleinen Ort Eldena nahe Greifswald eine neue Akademie für Landwirtschaft unter der Leitung von Friedrich Gottlob Schulze gegründet werden, der diesen Ruf, nach der dritten Erteilung, erst 1834 annahm. Die Verbindung zwischen Universität und Akademie scheiterte jedoch. Die Quellen berichten von Missgunst der Ordinaren wegen der rasch wachsenden Akademie und der Verwendung der universitären Mittel für den Ausbau und den Landkauf. Schulze verließ 1839 die Akademie und ging mit seinen Schülern zurück nach Jena. In Preußen wurden 1842 in einem kleinen Städtchen in der Nähe von Stettin unter Karl Sprengel, einem Schüler Thaers aus Möglin, eine landwirtschaftliche Akademie gegründet, die allerdings nach dessen Tod 1859 wieder eingestellt wurde.
Ich zitiere jetzt wörtlich aus der Rede von Gustav Fröhlich anlässlich des 100. Geburtstages von Julius Kühn 1925:
„Ein Hauptgrund, weshalb die Förderung des höheren landwirtschaftlichen Unterrichtswesens in Preußen nicht recht vorankommen wollte, dürfte wohl in den ungeklärten Ressortverhältnissen zu suchen sein. Die Staats- und landwirtschaftliche Akademie in Eldena unterstand, zunächst wenigstens, dem Kultusministerium. Dieses scheint nach den Greifswalder Erfahrungen keine sonderliche Neigung gehabt zu haben, das Experiment auch auf andere Universitäten auszudehnen. Als im Jahre 1845 die Einrichtung mehrerer höherer landwirtschaftlicher Lehranstalten beschlossen worden war, oblag die Ausführung dieses Beschlusses dem Ministerium des Inneren, dem das Landesökonomie-Kollegium als technische Behörde zur Seite stand. (...) 1848 wurden die landwirtschaftlichen Lehranstalten dem Ministerium für Handel und Gewerbe unterstellt und später dem inzwischen gegründeten landwirtschaftlichen Ministerium übertragen“
Doch auch in der praktischen Landwirtschaft selbst stand man dieser Frage unentschlossen gegenüber. So gab es auf der 26. Versammlung der Land- und Forstwirte im August 1853 Nürnberg den Tagesordnungspunkt: „Kann man an den höheren Landwirtschaftlichen Lehranstalten in zwei Jahren die Landwirtschaft wissenschaftlich und praktisch erlernen?“ Der Punkt wurde auf der Tagung nicht mündlich verhandelt, es  gab aber schriftliche Äußerungen. Eine dieser schriftlichen Stellungnahmen stammt von Julius Kühn, der eindeutig Stellung bezieht und für eine wissenschaftliche Ausbildung im landwirtschaftlichen Bereich eintritt. Ein Zitat aus dieser Stellungnahme:
„Studieren hat seine Zeit und Pflügen und Säen hat auch seine Zeit. „
Schon hier deutet sich die Klarheit an, mit der Julius Kühn sein Ziel ins Auge gefasst hatte und das er in den nächsten Jahrzehnten mit großem Nachdruck verfolgen sollte.
In einem seiner ersten Bücher beschreibt Julius Kühn sehr eindringlich, aber auch sehr persönlich, wie er selbst zu diesen Überlegungen gekommen ist.
„Nachdem betont ist, dass die Zeit des Landwirts eine sehr beschränkte sei, dass vom frühen Morgen bis späten Abend seine Aufmerksamkeit vollauf in Anspruch genommen werden, heißt es: „ ist aber die Herbstbestellung beendet, sind die Stoppeln gestürzt, Kartoffeln und Rüben geerntet, dann sind auch die langen Winterabende gekommen, und so Mancher weiß nicht, was er mit sich anfangen soll. Allen und jeden Abend lässt sich nun doch mal keine Whist- oder Skatpartie arrangieren, selbst wenn sich der Herr Pastor zum dritten oder  vierten Mann versteht. Man versucht allenfalls Weib und Kind mit Karten zu versehen, aber so wird die Sache bald langweilig (...). So schleichen die Wintermonate hin und man sehnt sich nach dem Frühjahr. Nun, auf das letztere freut sich wohl jeder Landwirt, denn seine volle Befriedigung findet er doch nur in dem Wirken und Schaffen auf Feld und Flur; jene langen Winterabende aber, dächte ich, lassen sich auch besser benutzen als sie von vielen, sehr vielen benutzt werden. Gewährt man den geselligen Freuden noch so viel Raum, man wird dennoch Zeit übrigbehalten, um an seiner geistigen Fortbildung zu arbeiten„
Derweil gab es in Sachsen weiter Bestrebung die landwirtschaftliche Ausbildung zu verbessern. Der landwirtschaftliche Zentralverein in Sachsen wies immer wieder darauf hin, dass für eine blühende Landwirtschaft auch eine höhere landwirtschaftliche Lehranstalt nötig sei. 1843 hatte der Provinziallandtag nach einer Petition des Zentralvereins auf eine Verbindung mit der Universität in Halle hingewiesen.
1860 starb dann Friedrich Gottlob Schulze in Jena – wir erinnern uns. Er war 1839 nach dem kurzen Intermezzo aus Eldena wieder nach Jena gekommen. Und nun gab es in der ganzen Region keine entsprechende Ausbildungsstätte mehr. Im Mai 1862 erfolgte dann der Ruf an Julius Kühn, nachdem er vorher einen Ruf nach Berlin auf eine vergleichbare Stelle abgelehnt hatte. Am 28. Oktober 1862 begann der neuernannte Professor mit seinen Vorlesungen.
Sein Lehrkonzept bestand aus den drei Richtungen:
·       Fachvorlesungen in den Gebieten Acker- und Pflanzenbau, Tierzucht und Betriebslehre
·       Naturwissenschaftliche Grundlagen in deutscher und lateinischer Sprache
·       Theoretische und praktische Übungen und Demonstrationen

Um hier nochmals Julius Kühn zu zitieren:
„Wir wollen unsere jungen Mitarbeiter von jeder geistigen Isolation fernhalten und ihr Fachwissen zunächst gut und dauerhaft unterbauen. Zugleich wollen wir ihnen raten, sich mit der Philosophie und mit allen freien Künsten auf Du und Du zu stellen, denn entgehen sie am ehesten der Gefahr, den Stollen, in dem sie forschend vorwärts dringen, für die Welt zu halten“
Der Zuspruch war allerdings anfangs gering und für Kühn enttäuschend. Neben einigen Juristen und zwei Theologen hatte sich nur ein Landwirt aus der Provinz Sachsen eingefunden. Wären Kühn nicht zwei Schüler aus Schlesien gefolgt, hätte dies schon das Ende der neuen Ausbildung sein können. Julius Kühn wurde zu diesem Zeitpunkt durch den damaligen Bürgermeister von Halle auf das vor der Stadt liegende Gelände des Wuchererschen Erbes aufmerksam gemacht. Die Bedingungen waren sehr gut. Das Gelände umfasste 7 Morgen Garten, einen Morgen Wiese, Haupt- und Nebengebäude und vier Gewächshäuser. Insgesamt eine gute Gelegenheit.
Bei der Berufung von Julius Kühn an die Universität waren allerdings neben den persönlichen Bezügen keine weiteren Mittel zur Verfügung gestellt worden und der damalige Kurator von Beurmann riet deshalb wiederholt vom Kauf ab. Er ist mit dem Zitat überliefert:
„Wenn sie mehr brauchen als ihre persönlichen Bezüge, treten sie lieber zurück“
Kühn finanzierte den Kauf dann aus eigenen Mitteln beantragte aber kurz darauf die Pachtung der Besitzungen durch die Universität. Einrichtungskosten von 13000 Talern und 5500 Taler jährlich sollten dafür angesetzt werden. Dem wurde nicht vollständig entsprochen, aber auf aller höchstes Geheiß aus Berlin, wurde eine Summe zur Unterstützung des laufenden Betriebs zugewiesen.
In der Folge betonte Kühn immer wieder, dass die Landwirtschaftswissenschaften fest in die Universität verankert werden müssten. Noch ein Zitat aus dem Jahr 1863:
„Die Landwirtschaftswissenschaft stützt sich allerdings in ihrer Lehre vom Anbau der Pflanzen und der Zucht der Tiere auf die Naturwissenschaften, wie sie in ihren allgemeinen Teilen auf  der Volkswirtschaftslehre ruht;
sie hat diesen, ihren Grundwissenschaften die leitenden Ideen und Prinzipien zu entnehmen und dadurch erscheint sie an sich selbst als solche angewandte Naturwissenschaft und Volkswirtschaftslehre.
Sie ist aber zugleich vermögen ihrer inneren Einheit und organischen Gliederung eine selbstständige Wissenschaft, die ihren besonderen Erfahrungskreis besitzt, in dem sie zu unterweisen und zu forschen hat.“
Mit diesem klaren Konzept stiegen sehr schnell die Studierendenzahlen in Halle. Waren es im zweiten Semester schon 17 Landwirte, wuchs die Zahl im fünften Semester schon auf 122 und blieb alle folgenden Jahrzehnte in diesem Bereich. Übrigens mit einer bemerkenswert hohen Anzahl von ausländischen Studierenden. Julius Kühn wurde nicht müde die Gebäudeausstattung am Standort zu verbessern. So wurde ein botanischer Garten ausgestaltet, ein Haustiergarten erstellt und die Tierklinik einschließlich einer Maschinenhalle errichtet. Oftmals trat Kühn hier wieder mit eigenen finanziellen Mitteln in Vorlage. 1866 wurden 6,25 ha für die Einrichtung eines Versuchsfeldes gepachtet. Nach zwei Jahren war diese Fläche schon auf fast 30 ha gewachsen. Bis 1901 erreichte die Versuchsfläche mehr als 110 ha. Um Julius Kühn in Lehre und Forschung zu unterstützen, wurde eine Reihe von Lektoraten geschaffen, die später teilweise in ordentliche Professuren überführt wurden. Hier konnten seine Vorstellungen nicht in jedem Fall realisiert werden, aber in den meisten Fällen war Julius Kühn erfolgreich, seine Vorstellungen zu verwirklichen.
Auf wissenschaftliche Einzelleistungen will ich an dieser Stelle nicht im Detail eingehen,  hervorzuheben ist aber in jedem Fall der außerordentliche Weitblick von Julius Kühn bei der Anlage und Durchführung von landwirtschaftlichen Untersuchungen. Julius Kühn legte einen 20jährigen Tiefbearbeitungsversuch an, einen 40jährigen Roggenversuch und mehrere Langzeitversuche zum Weizenanbau und zur Fruchtfolgegestaltung. Die Felle und Skelette der Tiere aus dem Hautiergarten wurden präpariert und gesammelt und bilden bis heute die Basis für wissenschaftliche Untersuchungen. Besonders zu erwähnen ist der 1878 angelegte und noch heute laufende Versuch „Ewiger Roggen“, bei dem Kühn versuchte die Mineralstofftheorie von Justus von Liebig zu überprüfen. Nach den sogenannten klassischen Experimenten begründet von Gilbert und Lawes im englischen Rothamsted, die von 1843 bis 1854 neun Dauerversuche anlegten, ist der „Ewige Roggen“ damit einer der ältesten noch laufenden landwirtschaftlichen Dauerversuche der Welt.
Zu erwähnen ist noch die Tatsache, dass Julius Kühn nicht nur über seine große Zahl von Schülern verfügte, die teilweise selbst nachher bedeutende Lehrstühle in Deutschland innehatten, sondern seine Erkenntnisse gleichermaßen auch in umfangreichen Schriften verbreitet hat.
Dass Julius Kühn bis ins hohe Alter unermüdlich blieb wurde schon betont. Noch mit 73 Jahren erwarb er im Jahr 1898 privat das Rittergut Lindchen bei Senftenberg in der Niederlaussitz, um hier Untersuchungen auf sehr leichten und somit extrem ertragsschwachen Sandböden durchzuführen.
Bis kurz vor seinem Tod im Sommer 1909 wirkte er als Hochschullehrer.
Manch einer wird jetzt im Auditorium sitzen und sich fragen: Was bedeutet das nun für mich hier und heute, welche Relevanz hat dies eigentlich für meine eigene Forschung? Zweifellos haben wir methodisch gewaltige Fortschritte gemacht. Die Details brauche ich hier sicherlich nicht aufzählen, den meisten im Saal ist dies bewusst. Wir wissen unendlich vielmehr oder glauben zu wissen als Julius Kühn und seine Zeitgenossen. Bei aller Begeisterung für moderne Methoden, in 50 oder 100 Jahren werden hier wieder Wissenschaftler sitzen und unsere Methoden belächeln. Aber zurück zu Julius Kühn. Es sind nicht die Methoden und es sind auch nur bedingt die wissenschaftlichen Einzelleistungen von Julius Kühn, die für uns heute bedeutsam sind.  Wichtiger ist aus meiner Sicht der Sachverhalt, dass Julius Kühn in der Lage war, seine Ergebnisse auch direkt in die landwirtschaftliche Praxis umzusetzen. Das war aber keineswegs eine Einbahnstraße, sondern ein wechselseitiger Austausch. Die Fragen kamen aus der Praxis und wurden in der Wissenschaft von Julius Kühn aufgegriffen. Dafür haben wir heute zwar einen schönen Fachbegriff – Transdisziplinarität  - doch von der Umsetzung sind wir weit entfernt. Was übrigens kein Wunder ist, wenn Wissenschaftler nicht nach Wirkung sondern nach Impact-Punkten beurteilt werden.  Wir dürfen daher nicht den Fehler machen und die Leistung Julius Kühns aus den heutigen Erfahrungen und Eindrücken zu interpretieren. Julius Kühn war ein Mensch des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, der Lösungen für agrarwissenschaftliche Fragestellungen seiner Zeit gefunden hat. Wissenschaftliche Lösungen, aber auch organisatorisch-institutionelle Lösungen. Auch wenn sich auf den ersten Blick einige Parallelen zur heutigen Situation ergeben mögen, so sind die viele unserer Fragestellungen und Probleme anders einzuordnen. Heute diskutieren wir über die Auswirkungen von Klimaveränderungen, den Verlust der Biodiversität und Beeinträchtigungen der Wasserqualität, Bodenschadverdichtungen um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Es sind aber auch Fragestellungen aktuell, die schon Julius Kühn umgetrieben haben. Ertragsmenge und –qualität, Pflanzengesundheit und Pflanzenschutz waren und sind weiter aktuell. Auch Malthus wird immer wieder zitiert, wenn auch vielleicht im modernen Gewand.
Neben diesen grundlegenden Fragen, gibt es aber eine Schnittmenge, die im Zentrum agrarwissenschaftlichen Bemühungen steht – und dies galt für Julius Kühn und gilt gleichermaßen in heutiger Zeit. Das ist der landwirtschaftliche Betrieb, der ökonomisch agieren muss und sich im Spannungsfeld zwischen Standortbedingungen, Markt und Politik und der Gesellschaft behaupten muss. Das Verdienst von Julius Kühn liegt gerade darin, dass er diese Einheit immer so gesehen hat. Zum Überprüfung einer Hypothese braucht der Agrarwissenschaftler daher in letzten Konsequenz den sachverständigen Blick in die Praxis, um zu sehen, was sich bewehrt und was trotz gut gemeiner Forschung, zum scheitern verurteilt ist.


Und insofern gewinnt das Zitat, das Issac Newton 1675 an seinen Freund Robert Hooke – übrigens der Entdecker der Pflanzenzelle - schrieb: „Wenn ich weiter sehen konnte (als du und Descartes), so deshalb, weil ich auf den Schultern von Giganten stand “ für uns eine besondere Bedeutung. Einer der Giganten, auf deren Schultern wir heute stehen, sind die Schultern von Julius Kühn.
Dass wir unter seinem Namen forschen, dass wir uns institutionell zusammengefunden haben ist einem so großen Wissenschaftler würdig.
Julius Kühne hat Großartiges geleistet – in seiner Forschung in Organisation von Forschung als Universitätsprofessor in der Lehre, aber auch in der Verbreitung seiner Erkenntnisse in die Wissenschaft und in die Praxis.

Literatur:
Schmalz, H. 1997: Die Vorgeschichte bis zur Eröffnung der Landwirtschaftlichen Fakultät (1947). In: Diepenbrock, W., (Hrsg) Festschrift 50 Jahre Landwirtschaftliche Fakultät, Universitätsdruck Halle, 13-23

Weblinks:
Julius Kühn bei Wikipedia
Biographie von Julius Kühn
Der "Ewige Roggen" in Halle

Die Audio-Fassung des Vortrages findet sich auch auf dem Youtube-Kanal