Freitag, 24. Mai 2013

150 Jahre Agrarwissenschaften an der Universität in Halle


(Rede anläßlich der Feierlichkeiten zu 150 Jahre Agrarwissenschaften an der Universität Halle)



150 Jahre Agrarwissenschaften an der Universität! Was für ein stolzes Jubiläum. Was für ein schöner Anlass zu einer Feierstunde an diesem historischen Ort.

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Agrarwissenschaften hier in Halle,

Auch und gerade  an einem solchen feierlichen Tag muss die Frage erlaubt sein, inwieweit die Agrarwissenschaften an der Universität verankert sind, und umgekehrt, ob sie dieser Verankerung wirklich bedürfen. Und in letzter Konsequenz, ob dies einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen hat?

Eine Antwort aus der Sicht des Dachverbandes Agrarforschung wird dann sicherlich kaum überraschen; vielleicht bietet aber der Gedankengang doch neue Argumente. 

Beginnen wir historisch: die Agrarwissenschaften gehörten nicht zu den klassischen vier Fakultäten Theologie, Philosophie, Rechtswissenschaften und Medizin. Auch bei der Gründung unserer Universität 1502 in Wittenberg waren Agrarwissenschaften noch nicht dabei (Obwohl die Finanzierung, und das ist bis heute so, über die Einnahmen aus landwirtschaftlichen Gütern erfolgte, aber dies nur am Rande).

Diese Historie allerdings als alleinige Begründung für eine universitäre Teilhabe heranzuziehen, wäre sicherlich zu kurz gesprungen. Auch viele andere wichtige Fächer und Fakultäten sind erst deutlich später auf der universitären Bühne erschienen.

Urkunden von Julius Kühn
Selbst Chemie, Physik oder Biologie haben erst später ihren Platz an den Universitäten gefunden. Teilweise, so die heutige Sicht,  mit obskuren Wurzeln, wenn wir nur an die Alchemie und die Suche nach der Herstellung von Gold denken. Da sind wir ja inzwischen weit von weg, das machen wir bekanntlich im 21. Jahrhundert an der Börse.

Was wäre die Welt, so wie wir sie heute kennen, ohne Agrarwissenschaften an den Universitäten? Wenn nun, wie der Volksmund sagt, Ackerbau und Viehzucht ungefähr 10.000 Jahre alt sind, dann ging dies ja auch  9800 Jahre nur über empirisch begründeten Fortschritt: Oder modern: Eigentlich könnte diese Forschung, doch auch die Industrie selber organisieren und finanzieren. Und zwar nicht aus der Innensicht einer Fachrichtung - hier ist es wenig verwunderlich, dass der Status der universitären Präsenz hoch angesehen ist - sondern aus gesellschaftlicher, oder was noch charmanter ist, aus politischer Perspektive. Wie sich dies anfühlt, erfahren wir ja aktuell schmerzlich in unserem Bundesland. 

Empirischer Fortschritt ist sicherlich ein wichtiger Bestandteil der Entwicklung in der Landwirtschaft. Und es stimmt: 9800 Jahre war dies der einzige Weg. Aber es gibt auch eindrucksvolle Gegenbeispiele aus den letzten 150 Jahren:

  • Pflanzenzüchtung: Kurzstrohsorten (Nobelpreis an Norman Borlaug), oder 00-Sorten bei Raps, (Praktisch die Einführung einer neuen Kulturart), Hybridmais (einschließlich der agrarökonomischen Forschung zur Adaption von Entwicklungen, Technologieentwicklung, „technological Charge“
  •  Tierzucht: Herdbücher Zuchtwertschätzungen, Populationsgenetik, genomische Selektion in der Tierzucht
  •  Varianzanalyse: Sir Ronald Fischer (ab 1919 Rothamsted, Wiederholung . Randomisation, Blockbildung)
  •  Agrarökonomie: Schweinezyklus, Politikberatung, Reform der Preisstützung, Entkopplung, MacSharry (Tangermann, Koester)

All diese Beispiele belegen aus meiner Sicht nachdrücklich: Nur empirische Forschung und langsame Veränderungen können nicht die alleinige Triebfeder für Veränderungen, Verbesserungen ja Fortschritt  in den Agrarwissenschaften sein.

Doch wie stellt sich dies heute da?

Sind wir – die Agrarwissenschaften - Helden, oder ab jetzt blind?

Hier könnte man eine britische, eine englische Antwort geben: Die Argumentation ist durchaus charmant: Wirtschaft, mit allen vor- und nachgelagerten Bereichen, kann als Industrie verstanden werden. Eine Industrie soll gefälligst für ihre Forschung selber sorgen. Das spart ungemein und der Fiskus ist entlastet. Die "Eiserne Lady" lässt grüßen.

Ja genau; dieses Konzept hat stringent und unerbittlich die kürzlich verstorbene Britische Premierministerin Margret Thatcher vertreten. Das Ergebnis im Hinblick auf die Agrarwissenschaften und die Landwirtschaft ist desolat und kann, und aus mir spricht Wehmut, in England besichtigt werden. Ich denke hier an Namen wie Bingham (Züchtung) oder Austin (Ertragsphysiologie). Was ist davon geblieben?

Urkunde zu Julius Kühne 70. Geburtstag - gespendet von seinen Studenten


Die einstmals wegweisende englische Agrarforschung - übrigens Vorbild für viele Entwicklungen in Deutschland, denken wir nur an den Gründer der DLG Max Eyth - liegt komplett in Trümmern. Dies hat übrigens auch massive Konsequenzen für die Ausbildung. Die englischen Betriebe haben extreme Nachwuchssorge. Was für ein Desaster! 

Aber reicht der Blick zurück?

Auch wenn Steigerung der Produktion, Steigerung der Effizienz damals wie heute noch Herausforderungen darstellen?

Nein sicherlich nicht – es gibt neue, zusätzliche Herausforderungen.
Doch was sind die zentralen Fragen denen  sich die Agrar- und Umweltwissenschaften heute zusätzlich noch stellen müssen?

Folgt man dem schwedischen Umweltwissenschaften Johann Rockström, der übrigens Agrarwissenschaft studiert hat, und seiner 2009 in nature publizierten Analyse „ A safe operating spacefor humanity“ werden diese Herausforderungen deutlich. Rockström kommt zu dem Ergebnis, dass es drei zentrale Bereiche gibt, in denen die Menschheit ihren sicheren Handlungsrahmen überschritten hat:

Verlust an Biodiversität (Gestern war der Tag der Biodiversität)
Eutrophierung der Ökosysteme mit Stickstoff
und mit gewissem Abstand
Folgen der Klimaveränderung

Wenn man sich diesen Fragen auf hohem wissenschaftlichen und methodischem Niveau nähern will, bedarf es einer universitären Agrarwissenschaft. Die Branche an sich, so stark sie wirtschaftlich auch sein mag, wird hier nur begrenzt Beiträge leisten können und wollen. Was umgekehrt nicht heißen soll, dass eine enge Verknüpfung und ein enger Kontakt zur Praxis, ganz im Sinnen Kühns, anzustreben ist.

Gibt es nun Beispiele für derart erfolgreiche Problemlösung im Kontext der Agrarwissenschaften? Was uns wieder zu der Frage des Charakters und dem Methoden des agrarwissenschaftlichen Fortschrittes führt. Es muss der Transfer gelingen: Sonst bleibt es eine Kopfgeburt! 

Ein Beispiel wo wissenschaftliche Grundlagenforschung, institutionelle Anbindung und Transfer in die landwirtschaftliche Praxis überaus erfolgreich waren, ist die Reaktion auf die großen Sandstürme zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Nordamerika.

Was passierte: Die Grundlagen der Winderosion wurden geklärt, technische Lösungen in Form der konservierenden Bodenbearbeitung entwickelt, intensiv wissenschaftliche untersucht und der speziell gegründete „Soil Conservation Service“ hat für den Transfer in die Praxis gesorgt – perfekt.

Sind die Agrarwissenschaften auf heute übertragen auf ähnliche Art und Weise in der Lage Probleme zu lösen? Ich denke ja: gerade hier an der Universität Halle gibt es dafür einige gute Beispiele: Lassen sie mich nur auf den Wissenschaftscampus verweisen, der sich zentral dem Problem der Ertragsstagnation bei Weizen angenommen hat.

Oder das Projekt „Preventing the next Great Dust Bowl“ unter der Leitung von Kollegen Frühauf, das wie 1930 in den USA diesmal für Westsibirien ein Konzept der Bodenbewirtschaftung entwickelt, wissenschaftliche begleitet und implementiert. Kollegen Frühauf habe ich hier großherzig mit bei den Agrarwissenschaften verortet. Viele Kollegen aus den Agrarwissenschaften sind an dem Projekt beteiligt.

Hervorzuheben ist aber auch: In beiden genannten Projekten, und gerade dies ist kennzeichnend für die Agrarwissenschaften, sind die Ökonomen maßgeblich mit integriert. Das kennzeichnet eine Systemwissenschaften, das ist Forschung zur Nachhaltigkeit. 

Wenn nun aber die Schlussfolgerung ist, dass für die Lösung der wichtigen globalen Fragen die Agrarwissenschaften in ihrer ganzen Breite an den Universitäten einen wichtigen Platz einnehmen sollen, sollte noch betont werden, dass sich die Agrarwissenschaften selbstverständlich auch den akzeptieren Beurteilungskriterien universitärer Forschung und Lehre unterziehen müssen. Hier kann es keine Ausnahme geben.

Wie stellt sich nun die heutige Agrarforschung, dann ja nun mit enger universitärer Bindung, im Lichte von Julius Kühns Vision vor 150 Jahren dar? Augenfällig ist sicherlich der etwas andere Fokus im Hinblick auf die Probleme der praktischen Landwirtschaft. 

Die Steigerung und Sicherung der Erträge war für Julius Kühn zentral, seiner Zeit und auch seiner Vita geschuldet. Vom Grundsatz gelten aber noch die gleichen Prinzipen und die Erfolgsgeschichte wartet nur auf neue Kapitel. Fragestellungen für die Agrarwissenschaften können dabei nicht nur aus dem gesellschaftlichen Kontext kommen, sondern ergeben sich in gleicher Weise auch auf der Ebene der Betriebe. Umgekehrt entfalten Problemlösungen, sollen sie auch wirklich relevant werden, nur ihre Wirkung, wenn die landwirtschaftliche Praxis auch einbezogen und, wie es heute so schön heißt, mitgenommen wird. Hierzu sind Kenntnisse von der Ökonomie, der Arbeitswirtschaft und den sozialen Umständen in der Gesellschaft und, enger betrachtet, in der Landwirtschaft, unverzichtbar. 

Das umfasst beileibe nicht nur die Forschung, darüber habe ich hier gesprochen, sondern auch die  Ausbildung des Nachwuchses. Gerade auf diesem Weg gelangen Erkenntnisse dann auch in Industrie, Verwaltung aber auch auf die landwirtschaftlichen Betriebe, und dann sind wir wieder bei Julius Kühn, für den die Lehre immer ein Grundpfeiler der Universität gewesen ist.

Die Absolventinnen und Absolventen müssen einerseits für die Leitung der landwirtschaftlichen Betriebe ausgebildet werden – hier ist die Nachfrage derzeit immens. Aber auch verantwortliche Positionen in Industrie, Verwaltung und Politik haben einen großen Bedarf an qualifiziertem Nachwuchs. Auch und gerade in Berlin, Brüssel und Washington muss die Sache der Landwirtschaft sachgerecht vertreten werden. Dies kann nur die universitäre Agrarwissenschaft erreichen. Das Ausbildungskonzept von Julius Kühn ist hier ein Beispiel mit Gültigkeit bis in die Gegenwart.

150 Jahre Agrarwissenschaften an der Universität! Was für ein stolzes Jubiläum. Was für ein schöner Anlass zu einer Feierstunde. 

Mit dem Wissen um eine eindrucksvolle Bilanz und im Ausblick auf die vor uns liegenden Herausforderungen bei Fragen der Landwirtschaft, der Ernährung und der Umwelt ist die Botschaft nach meiner festen Überzeugung eindeutig:

„Wir – die Agrarwissenschaften - sind gekommen um zu bleiben“.

Vielen Dank!

Olaf Christen
(Präsident des Dachverbandes Agrarforschung)